Aus verbotenen Büchern

 

Über das Gefäß

Das Gefäß bewahrt alles. Die Schläfer träumen den Traum. Sich wachen im Herzen des Gefäßes, sie schlafen. Die Schlafenden sind wach, sie sind die Träumer. Sie überdauern das Leben und den Tod. Die Träumer kreieren die Welt. Die Welt ist das Gefäß. Das Gefäß ist die Welt. In ihrem Herzen unsere prächtige Stadt.

Anima Hollow – Die Stadt der Spiegel. Möge sie ewig sein.

 

 

 

Über den Vorhang

Er trenne die Welten. Er sei wie ein Schleier, achtsam behütet von den Ackermuhmen, den Alten. Im nördlichen Außenbezirk der Stadt sei ihre Heimat, in welcher sie still über die Ebenen hinken. Der Vorhang sei essentiell. Er trenne zwei Welten, die sich nicht miteinander vereinen lassen. Er sei wie eine Hintertür, unsichtbar, jedoch allgegenwärtig. Er verhülle das, was nicht gesehen werden will. Das, was im Augenwinkel hin und wieder zuckend nach Aufmerksamkeit ruft. Es flüstert. Es lauscht. Es verschwindet, wenn man den Kopf wendet und einen Blick wagt.

Der Vorhang verberge etwas, das unaussprechlich ist. Etwas, für das wir niemals Worte gefunden hätten. Er sei die Trennwand zwischen der Welt und dem von ihr geworfenen Schatten. Unvorstellbar, was geschehen würde, wenn er sich lichte, der Vorhang. Einzig sichtbar seien die unaussprechlichen Formen, die sich hinter ihm abzeichnen und nur Ahnungen dessen zulassen, was sie wirklich sind. Nur die Muhmen wissen es wohl. Die Alten, die in beiden Welten wandeln, wachend auf der Grenze, der Bordsteinkante.


Über die Architektin/ Die Schläfer

Es heißt, hinter dem Spiegel - was auch immer das bedeutet - lebe dasjenige Geschöpf, aus dessen Feder die Spiegelstadt einst geflossen ist. Wir nennen sie die Architektin. Sie sei uralt, jedoch nicht sterblich. Sie existiere nur jenseits der Spiegelstadt. Manche sagen, sie schreibt noch immer. Nur sie kenne alle verborgenen Winkel unserer schillernden Stadt und wisse um ihre dunklen Geheimnisse. Was aus ihrer Feder fließt, werde wahrhaftig. Jene Tinte ist es, die sich mit dem Papier vereint und in dessen Furchen und Rillen eindringt und das Bild der Spiegelstadt lebendig werden lässt. Sie sei weder gut noch böse. Sie sei die Schreiberin des Schicksals selbst.


Über den Sammler

Die alte Nanda erzählte mir bei einer hervorragenden Tasse Tee allerlei Kurioses über den Sammler. Ein verbotenes Märchen ranke sich um jenes Geschöpf und auch einige, schreckliche Kinderreime. Er, der Sammler, sei gefährlich und nicht bloß ein Kinderschreck. Nicht umsonst sei das Märchen verboten.

 

Er sei eine bedauernswerte Kreatur, schemenhaft und ein unruhiger Geist, der bei Nacht und Nebel als einsamer Kaufmann durch die Gassen und Straßen der Spiegelstadt zieht. Er hätte allerlei anzubieten: Kurioses, Obskures, Duftendes und Wohlschmeckendes. Doch wehe, man lässt sich auf einen Handel mit ihm ein. Es heißt: Wer mit dem Sammler handelt, verkaufe sich am Ende selbst. Er sei auf der Suche nach einer Ruhestätte, nach einem Ort, der ihn ganz in sich aufnehmen will. Er bewahre die Seelen derjenigen in seinem Bauchladen auf, die mit ihm Geschäfte machen. Er sei nicht menschlich, sondern etwas gänzlich anderes. Ein Dämon vielleicht oder eine Hexe, die Menschen frisst.

 

Er sei so unscheinbar in seinem Auftreten und in seiner friedvollen Erscheinung. Man begutachte jedoch seinen hinkenden Tritt und sein schief gewachsenes, linkes Bein, das annehmen lässt, es sei ein verdeckter Pferdefuß.

Die alte Nanda schauderte beim Erzählen und ich tat es ebenso. Der Sammler sei stets unter uns, bemüht darum, nicht besonders aufzufallen. Er lege Spuren aus Süßem und Salzigem, denen die Kinder eilig und willig folgen. Er locke sie. Ganz und gar verheißungsvoll und ein verschlagener Kaufmann sei er. Manchmal verschwinden Kinder und sie kehren nicht wieder zurück.

 

Des Nachts verkrieche er sich in den Schatten der Gassen und Häuserwinkel. Im bleichen Schein des Mondes wandele er von Haus zu Haus, stets auf der Suche. Des Tages mische er sich unter die Leute, unscheinbar und mit wechselnder Gestalt. Manche reden, er sei der Teufel selbst. Ein Flaschengeist, ein Relikt oder ein magisches Artefakt.

Er sei vielleicht das Ergebnis einer reinen Absicht, die im Schein des Mondes verwildert ist. Er sei der Sammler der Seelen, die keine Heimat finden.