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Die Flut der Dinge

 

"Minimalismus ist doch nur ein Trend. Eine neue, postmoderne Strömung und Kompensationstechnik der überforderten Generation Y und Z." Oder vielleicht doch mehr? Befreiungsschlag, Konsum-Protest und Aussteiger-Fantasie? So einfach ist es wohl nicht. Und ich kann diesbezüglich nur für mich selbst sprechen.


Ein Gefühl für Ordnung und die Fähigkeit diese auch zu erhalten habe ich schon mein Leben lang. Stundenlang habe ich mich als Kind damit beschäftigt Küchenutensilien aus den Schränken und Schubladen herauszuholen, um sie dann wieder sorgfältig einzusortieren. Diesen Vorgang konnte ich immer wiederholen ohne dass es mir dabei langweilig geworden wäre.


Ich mag aufgeräumte und übersichtliche Umgebungen. Sie geben mir ein Gefühl von Klarheit und Orientierung. Chaotische Umgebungen und Unordnung bewirken in mir eine Desorientierung, die mich innerlich aufwühlt und meine Konzentrationsfähigkeit erheblich einschränkt. Als ich mir dessen bewusst wurde, überlegte ich mir Schritt für Schritt, welche Art von Umgebung und Umgebungsstruktur für mich förderlich sein könnte.

 

Das alles fing im jungen Erwachsenenalter an. Ich hatte zum damaligen Zeitpunkt viel Kram und Dekorationsgegenstände angesammelt. Die einzelnen Stücke kamen schon gar nicht mehr richtig zur Geltung, so viele waren es geworden. Bücher in doppelter und dreifacher Reihe besiedelten meine Kallax-Regale wie Waren in einem Warenlager. Der dreitürige Kleiderschrank, der zudem mehrere Schubfächer besaß, war voll.

 

Die freien Flächen auf meinem Schreibtisch waren zugestellt mit Stiftehaltern, Boxen, Ablagen und diversen Kram-Kästchen. In den Schubfächern meines Schreibtisches befanden sich ebenfalls zahlreiche Unterlagen, Stifteboxen, Notizkram und sonstige Bürogegenstände. Aktuell kann ich nicht mehr genau sagen, was und wieviel es wirklich war, da ich die meisten Dinge, die gehen durften, schon vergessen habe. Ein sicheres Zeichen dafür, dass für mich keine Notwendigkeit besteht, sie zu besitzen.


Das Ausmisten begann vor allem aus einem Grund: Der Einzug in meine erste eigene Wohnung rückte in greifbare Nähe. Da ich mir kein Umzugsunternehmen leisten wollte, musste alles möglichst mit dem Auto transportiert und auf einfache Weise in die neue Wohnung getragen werden können. Ich habe schnell erkannt, was auf mich zukommen würde, wenn ich alles mitnehmen würde. Allein die Bücher, deren Anzahl ich mir nicht bewusst war, hätten sicherlich zig Kartons ergeben. Also fing ich an, auszusortieren.


Zuerst den Kleiderschrank, danach den Schreibtisch, danach die Bücher und sonstige Dinge wie Dekorationsgegenstände, alte Schulsachen und Unterlagen. Auch emotionale Gegenstände mussten recht zügig dran glauben. Seltsamerweise fiel mir das Loslassen der meisten Gegenstände sehr leicht. Es befreite mich. Jede freie Fläche die entstand war Balsam für meinen Wahrnehmungsapparat. Der ganze Prozess (der übrigens erst der Anfang war) dauerte etwa zwischen einem und zwei Jahren. Für den Umzug in meine erste eigene Wohnung genügte der geräumige PKW meiner Eltern.

 

Ich hatte mich von der Flut der Dinge befreit. Und ich lies in den folgenden zwei Jahren noch mehr Dinge los. Es blieb nicht bei den Dingen. Ich identifizierte auch immer mehr Gedanken, innere Einstellungen und soziale Verhaltensmuster, die mich unzufrieden machten und nach persönlicher Weiterentwicklung schrien. Je klarer meine Umgebung wurde, desto besser gelang es mir, auch innerlich aufzuräumen und klar Schiff zu machen.


Die Einrichtung meiner aktuellen Wohnung würden die meisten Menschen wohl als „zu extrem“ empfinden und auch so bezeichnen. Viele Dinge, die für andere Menschen notwendig sind, sind es für mich schon lange mehr – Bügeleisen, Waschmaschine und Bücherregal wird man bei mir nicht finden. Aber es geht nicht um die Dinge oder um ihre Anzahl. Es geht um mehr.


Oft liest und hört man, dass es beim Minimalismus darum ginge, nur die Dinge zu besitzen, die man wirklich braucht. Dem kann ich zustimmen. Auf dinglicher Ebene ist es genau das, was wirklich zählt: Besitzen, was gegenwärtig für einen persönlich wichtig und notwendig ist. Aber Minimalismus, der auf dinglicher Ebene stagniert, ist nicht tiefer gedacht. Minimalismus geht unweigerlich auf andere, nicht-dingliche Ebenen über, wenn man ihn konsequent weiterlebt. Aus persönlichen Gesprächen mit „MinimalistInnen“ weiß ich, dass diese Erfahrung viele machen.


Und wenn alles Dingliche verschwunden ist? Wenn nichts mehr ausgemistet werden kann? Was dann? Wenn der Blick nicht immer und immer wieder ins Außen abgelenkt wird, wandert er automatisch nach innen. Das bedeutet keinesfalls, dass nun alle Probleme gelöst sind. Im Gegenteil – ist die Flut der Dinge erstmal abgezogen, kann sichtbar werden, was darüber hinaus existiert oder eben auch nicht existiert. Welches nie gelebte Leben wird in Gedanken plötzlich lauter? Welche inneren Zweifel können sich plötzlich Gehör verschaffen? Welche Wünsche und Träume wollen nun erfüllt werden?


Die minimalistische Lebensweise hat mich bisher auf einen spannenden und aufregenden Pfad geführt, auf dem ich mich selbst immer besser kennenlerne. Befindest du dich auch auf dieser Reise oder möchtest bald aufbrechen?

 

 

Was bedeuten dir deine liebsten Dinge?

Von welchen möchtest du dich befreien und warum?

 

 

Kommentare: 5
  • #5

    Andrea (Samstag, 25 Dezember 2021 09:59)

    Ich sag ganz oft zu meinem Patienten "Der moderne Mensch hält sich nicht artgerecht". Damit ist das meiste gesagt.

  • #4

    Aura (Sonntag, 19 April 2020 14:27)

    Danke, liebe Nine! Freu mich immer, wenn du hier vorbei schaust.

  • #3

    Nine (Sonntag, 29 März 2020 10:41)

    Hallo du Liebe. Ein weiterer sehr schöner Beitrag von dir. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und Spaß hier.

  • #2

    Aura (Samstag, 28 März 2020 15:47)

    Kristina, ich kann dir nur zustimmen. Für mich fühlt sich dieser ganze "Weg" auch wie eine gewaltige Integration an. Eine Neu-Sortierung, Orientierung und Ausrichtung. Danke für deinen Kommentar!

  • #1

    Kristina (Samstag, 28 März 2020 15:42)

    Sehr schöner Text und super Titel! Der Minimalismus ist bei mir aus dem Gefühl entstanden, dass etwas Grundlegendes nicht in Ordnung ist. Ich habe mich weggeschwemmt gefühlt von der Flut der Dinge. Um klarer sehen zu können, was das ist brauchte ich inneren Freiraum und das Loslassen von Dingen verschaffte mir diesen Freiraum. Erst jetzt im Nachhinein weiß ich, dass ich eine Frage gestellt hatte, die ich damals nicht ausformulieren konnte. Die Frage lautet: was ist die artgerechte Haltung des Menschen? Minimalismus ist für mich das Zurückfinden zur artgerechten Haltung. Und das betrifft nicht nur den Besitz, sondern auch die Ernährung, die Work-Life-Balance, das menschliche Miteinander, das Aufbrechen der Beziehungslosigkeit und die Wiederentdeckung und Integration der Psyche.