Manchmal kommt alles anders.
Vor einigen Wochen stand vor mir auf der Rollstrecke im Supermarkt ein Mann mit einem auffälligen Unterarmtattoo: Ein im Wind verwehendes und zerbröckelndes Ziffernblatt einer Uhr mit dem
Schriftzug „Tudo passa“ darunter. Ich habe zuhause nachgeschlagen und erfahren, dass es sich um ein portugiesisches Sprichwort handelt, doch bereits im Supermarkt war mir intuitiv bewusst, dass
es nur so viel bedeuten kann wie „Alles geht“.
Ich lese meine Umwelt gerne wie einen Spiegel. Deshalb habe ich lange über „Tudo passa“ nachgedacht und überlegt, wie und
wo diese Aussage gerade in mein Leben passen könnte. Ein deutlicher Bezug wollte sich so recht nicht ziehen lassen, wenngleich „Alles geht“ natürlich so oder so sehr allgemeinbedeutend ist für
die Vergänglichkeit.
Die Wochen nach „Tudo passa“ überschlugen sich dann. Auf der Arbeit ist einiges in Umwälzung aus verschiedenen persönlichen und dienstlichen Gründen. Unter anderem verlassen uns drei Kolleginnen,
die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Damit verbunden ist, dass ich nach den Ferien zum ersten Mal eine eigene Lerngruppe leiten werde. Wie aufregend! Und doch war es eine harte Zeit, vor allem
direkt vor den Sommerferien und so unerwartet.
Es erstaunt mich immer wieder, wie schnell sich Umstände und Situationen ändern, umwälzen, neu strukturieren, transformieren und auf rinks und lechts drehen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.
Wenn sich Dinge erst einmal eingespielt haben, dann nehmen wir sie gerne für selbstverständlich, richten uns bequem darin ein und denken nicht daran, dass sich alles jederzeit ändern könnte.
Manchmal entscheiden nur Sekunden über den Fortgang eines Lebens. Manchmal Stunden, Tage, Wochen oder Jahre.
Alles zu seiner Zeit. Und alles hat seine Zeit. Etwas endet und etwas Neues beginnt. Wenn alles geht, hat man einen Grund mehr, die Dinge nicht krampfhaft festzuhalten, da sie so oder so von uns
gehen werden. Wenn wir sie gehen lassen, entsteht Raum für Neues. Auch, wenn der neugewonnene, leere Raum erst einmal mit Traurigkeit verbunden sein mag.
Weil alles irgendwann geht, dürfen wir alles ohne Reue loslassen. Weil alles seine Zeit hat, ist Festhalten obsolet. Was nicht mehr stimmt,
wird gehen. Was stimmt, bleibt gewiss. Bleibt es nicht, dann stimmt es nicht mehr.
„Tudo passa“ lehrt uns das Annehmen von Veränderung. Was wir nicht aktiv beeinflussen können, dürfen wir annehmen. Annahme ohne Schönreden, Annahme ohne Schlechtreden. Einfach nur Annahme. Für
irgendwas wird’s schon gut sein. Das Leben ist keine Gerade, keine Parabel und auch keine Sinuskurve. Das Leben geht seine ganz eigenen Wege, ohne Regeln und ohne ein Schema F.
In Zeiten der Umwälzung sind es die kleinen Dinge, die uns eine Konstante bieten: Der ein- und ausströmende Atem, eine brennende Kerze auf dem
Altar oder der Füllfederhalter, der schreibend über das Papier gleitet und alles festzuhalten versucht, was gehen will.
Kannst du dich einlassen?
Was stimmt und bleibt?
Was darf gehen?
Aura (Sonntag, 18 Juli 2021 10:47)
Hallo Anja,
das mit dem Einverstanden-Sein ist sehr machtvoll. Wenn man das für sich praktizieren kann, dann fällt ein großer Stein vom Herzen... aber ja, die Konzepte, die Erziehung, Prägung und what ever. Das ist die Herausforderung des Lebens. Dazu fällt mir mein Lieblingszitat von Theodor W. Adorno ein:
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ (Theodor W. Adorno)
Anja (Donnerstag, 15 Juli 2021 09:29)
.... das Phänomen kenne ich! Ich gehe seit ca. 8 Jahre mit meinem Hund früh eine Stunde Joggen. Also wirklich täglich. Ich habe es vielleicht 10 x ausfallen lassen, weil ich mal krank war. Und jedes Mal, wenn das Wetter schlecht ist, hadere ich, dass ich jetzt bei Regen, Schnee, Kälte, Dunkelheit raus soll! Und in 98% stelle ich dann draußen fest, dass eigentlich überhaupt nicht schlimm ist > im Gegenteil > meistens trotz Regen sehr schön und angenehm. Aber diese Konzepte sitzen offensichtlich sooo tief... es ist wirklich schwer sich davon zu befreien.
Konzepte loszulassen und für die Realität offen zu werden ist am allerschwersten. In meinen Augen zumindest. Ich stelle mir immer vor, dass „Einverstanden-Sein“ das Allergrößte ist.
Kennst Du Mary Oliver? Sie schreibt so wundervolle Gedichte .... ich könnte mir vorstellen, dass Du sie sehr magst... da Du ja berichtet hast, dass Du dieses „ Wildnisjahr“ machst....und bei Mary Oliver geht es immer um das Wesen der Natur.... allerdings die meisten Gesichte gibt es nur in Englisch...
Herzliche Grüße
Anja
Aura (Mittwoch, 14 Juli 2021 16:39)
Hallo Anja!
Das Gedicht gefällt mir gut. Das ist wirklich sehr symbolisch. Heute morgen bin ich in einen heftigen Regenguss gekommen. Trotz der Tatsache, dass ich bis auf die Haut durchgeregnet war, habe ich noch versucht mich unterzustellen. Bis ich mir selbst sagte: Hey, es ist jetzt sowieso egal.
Das hat mich schon erstaunt, wie ich am Trockenbleiben festhielt, obwohl ich schon vollständig durchnässt war. Den Regen fallen zu lassen, das war auch ein Loslassen, irgendwie.
Anja (Mittwoch, 14 Juli 2021 16:13)
Hallo Aura, der Artikel gefällt mir wirklich gut!
Im Laufe der Zeit wird man auch immer starrer in seinen Gewohnheiten und Lebensrhythmen. Irgendwo habe ich mal gehört, dass die Komfortzone sogar schrumpft, wenn man sie nicht regelmäßig pushed. Also für mich stimmt da 100%!
Daher ist es wirklich notwendig, immer wieder von vertrauten Räumen Abschied zu nehmen und sich wieder in den Fluss zu begeben. Um geschmeidig zu bleiben...
Mir fällt ein Gedicht von Mary Oliver ein:
To live in this world
You must be able
to do three things:
to love what is mortal;
to hold it
against your bones knowing
your own life depends on it;
and, when the time comes to let it go,
let ist go.
Aus „In Blackwater Woods“ by Mary Oliver
Herzliche Grüße
Anja