Der Kaiser von China bat einst Laotse darum, Leiter seines obersten Gerichtshofs zu werden. Am ersten Tag wurde ein Dieb vor Gericht gebracht, der den reichsten Mann in der Hauptstadt um fast die
Hälfte seiner Schätze beraubt hatte. Laotse hörte sich den Fall an und entschied dann, dass der Dieb und der reiche Mann beide für sechs Monate ins Gefängnis gehen sollten.
Der reiche Mann war erstaunt: „Was sagst du da? Welche Art von Gerechtigkeit ist das, dass du mich für dieselbe Zeit ins Gefängnis steckst wie den Dieb?“ Laotse antwortete: „Im Grunde bin ich dem
Dieb gegenüber nicht ganz gerecht. Du müsstest eigentlich viel länger im Gefängnis sitzen als er, denn du hast so viel Geld für dich selbst angehäuft. Tausende von Menschen sind arm, und du
häufst immer mehr Geld an. Wozu? Es ist deine Gier, die diese Diebe hervorbringt. Das erste Verbrechen war deines.“
Das gehört mir! – Wie uns Privateigentum verändert
Die Geschichte über Laotses Urteil bewegt mich. Sie umschreibt ein Dilemma, das sich auf vielen Lebensebenen abspielt. Das Dilemma von Besitz und besessen werden. Was bringt einen Dieb dazu, Dieb
zu sein? Das ist die entscheidende Frage.
In einer Welt, in der jedem das zukommt, was er braucht, gibt es keine Diebe, weil es niemandem an etwas fehlt. Privateigentum verändert uns. Kinder beginnen sich mit Dingen und Personen in ihrer
Außenwelt zu identifizieren, sobald sie besitzanzeigende Fürwörter wie „mein“ und „dein“ erlernen und verstehen. „Mein“ Spielzeug statt „ein Spielzeug“, „mein“ Stift“ statt „ein“ Stift, „meine“
Schuhe“ statt „Schuhe“.
„Mein“ Auto ist mir wertvoller als „ein“ Auto. Wenn ich „mein“ Smartphone verliere ist das schlimmer als „ein“ Smartphone zu verlieren. „Mein“ und „dein“ trennt uns, trennt die Menschen und macht
uns besessen von den Dingen und der äußeren Welt. Die Einführung von Privateigentum verstärkt das Besitzdenken und lässt uns Anspruch erheben auf das, was wir als „mein“ definieren oder
definieren wollen.
Privateigentum erweitert uns, definiert uns, körperlich uns psychologisch. Aber was ich habe, kann ich niemals sein. Durch „mein“ entsteht die Illusion der Identifikation: Ein Kind weint
bitterlich, weil ihm „sein“ Spielzeug weggenommen wird und ein Erwachsener hängt an seiner vergoldeten Armbanduhr, die „seine“ ist und die er teuer versichert für den Fall, dass sie ihm gestohlen
wird.
Besitzdenken übersteigt die Dinge
Besitzanzeigende Fürwörter können sich derweil auch auf Personen beziehen. „Meine“ Frau, „mein“ Mann, „meine“ Kinder und „meine“ Freunde gehören (zu) mir. Haben wir eine gute Freundin ist sie
„eine“ Freundin, kommen wir uns näher und lassen eine Partnerschaft daraus erwachsen, wird aus „einer“ Freundin plötzlich „meine“ Freundin – unbewusst erheben wir einen Besitzanspruch, werden
vielleicht eifersüchtig, klammernd, einnehmend.
Wir können einen anderen Menschen nicht besitzen. Und genauer genommen – philosophisch betrachtet – können wir keine Dinge besitzen. Besitz ist ein Konzept, ein Gesetz, ein Recht, eine Regel, die
einst erfunden und niedergeschrieben wurde.
Besitz ist eine Illusion. Je stärker wir mit dem Subjekt, das auf „mein“ folgt, identifiziert sind, desto stärker leiden wir, wenn uns dieses Subjekt abhandenkommt oder uns „weggenommen“ wird.
Niemand kann jemandem etwas „wegnehmen“, wenn niemand etwas besitzen kann. Privateigentum erschafft erst Konzepte wie „Dieb“ und „Bestohlener“.
Ohne Privateigentum kein Dieb, kein Bestohlener, kein Verlust. Die Idee von „mein“ und „dein“ macht uns abhängig von dem, was wir meinen, zu besitzen oder besitzen wollen. Sie macht uns abhängig
von der Angst, einen Verlust dessen was „meins“ ist zu erleiden.
Besitz macht besessen
Selbst auf unsere Meinungen und Gedanken erheben wir Besitzanspruch, wenn wir sagen, das ist „meine“ Meinung und „deine“ ist eine andere. „Meine“ Gedanken sind nicht „deine“ und umgekehrt. Wird
„meine“ Meinung kritisiert, fühle ich mich vielleicht abgelehnt und unzureichend, weil ich bereits mit „meiner“ Meinung so stark identifiziert bin, dass ich es persönlich nehmen muss, wenn diese
in Frage gestellt wird, denn das bedeutet ja folglich, dass ich selbst in Frage gestellt werde.
Was macht Besitzdenken mit dir und wie verändert sich deine Beziehung zu den Menschen, Dingen, Gedanken und Situationen, wenn du aus „mein“ öfter mal „ein“ machst?
Kannst du dir vorstellen, ohne Privateigentum zu leben und alles zu teilen?
Was macht diese Vorstellung mit dir?
Thorsten (Mittwoch, 14 Oktober 2020 23:11)
"meine Frau" könnte auch bedeuten : "die Frau, die zu mir gehört, weil sie es möchte und ich es möchte". Es wäre dann kein Besitz , sondern eine Beziehung.
Anja (Dienstag, 13 Oktober 2020 10:52)
Mir fällt jetzt noch etwas (Extremes) zum Thema „Besitz bzw. Teilen“ ein: bei irgendeiner asiatischen Zen-Meisterin habe ich in einem Buch mal ein sehr provokatives Kapitel gelesen, in dem sie die These aufstellt, dass im Grunde genommen uns nicht einmal der eigene Körper gehört. Milliarden von Mikroorganismen leben durch ihn und auf ihm und hegen da durchaus Anspruch. Alles eine Form des Lebens, wir halten es eben für minderwertig. Trotzdem brauchen wir diese Symbiose auch, um überhaupt leben zu können.
Also ich merke aber schon, dass ich nur bedingt bereit bin, meinen Körper ohne Mitspracherecht zu teilen...
Aura (Sonntag, 11 Oktober 2020 22:33)
Hallo Anja! Ja, ich weiß genau was du meinst. Genau deshalb hat es mich so fasziniert, über etwas so "Selbstverständliches" wie Privateigentum nachzudenken. Freut mich, dass ich dich auch etwas damit anregen konnte!
Anja (Sonntag, 11 Oktober 2020 22:04)
Liebe Aura,
ein hervorragender Blogartikel! Er macht mich sehr nachdenklich. Ich glaube ich kann vieles teilen und bin gerne großzügig bzw. lasse andere gerne teilhaben. Aber - das wurde mir beim Lesen ganz klar - gibt es doch so manches, dass ich überhaupt nicht bereit bin zu teilen und - muss ich zu meiner Schande gestehen - schon gleich gar nicht mit jedem.
Zu einem Leben ohne Eigentum (= Sicherheit) gehört unglaublich viel Mut und vor allem Vertrauen (ins Leben)! Das zur rechten Zeit alles da sein wird, was nötig ist. Sozusagen ohne Sicherheitsseil. Und doch ahne ich, dass da auch eine riesige Freiheit liegen könnte....
LG Anja